Begründung zum Leipziger Urteil: Staat hat Schutzpflicht
Das Deutsche Bundesverwaltungsgericht hat soeben eine überraschende Begründung zur Abgabe von tödlichen Mitteln an sterbewillige Menschen veröffentlicht. So solle eine Schutzpflicht für extreme Notlagen in Betracht gezogen werden.
Seit Dezember 2015 gilt in Deutschland ein Verbot der „organisierten Suizidbeihilfe“. Im März dieses Jahres fällte dann das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig ein aufsehenerregendes Urteil punkto Sterbehilfe. Es entschied, dass sterbewillige Menschen in Deutschland in "extremen Ausnahmefällen" das Recht auf eine tödliche Dosis Betäubungsmittel haben.
Errungen hatte dieses Urteil der Ehemann einer vom Hals abwärts komplett gelähmten Frau, nachdem ihr das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) die Erlaubnis zum Kauf einer tödlichen Menge Natrium-Pentobarbital zur Selbsttötung zuerst verwehrt hatte (siehe auch Newsmeldung vom 6. März 2017): Urteil in Deutschland rollt Diskussion zur Sterbehilfe neu auf
In der jetzt vom Bundesverwaltungsgericht veröffentlichten Begründung zum Urteil halten die Richter fest, dass der staatliche Lebensschutz nicht in jeder Lage und ungeprüft gelten dürfe: "Ein ausnahmsloses Verbot, Natrium-Pentobarbital zum Zweck der Selbsttötung zu erwerben, greift in das grundrechtlich geschützte Recht schwer und unheilbar kranker Menschen ein, selbstbestimmt darüber zu entscheiden, wie und zu welchem Zeitpunkt ihr Leben enden soll."
Umgekehrt umfasse das Selbstbestimmungsrecht auch eine Schutzdimension. Nämlich würden die Grundrechte nicht nur als Abwehrrechte gegen staatliche Eingriffe gelten, sondern verpflichteten den Staat auch zu eigenem Handeln. Der Einzelne könne zwar nicht grundsätzlich verlangen, dass der Staat die Rahmenbedingungen und Strukturen für eine Selbsttötung schaffe. Jedoch solle eine konkrete Schutzpflicht in Betracht gezogen werden, wenn sich ein schwer und unheilbar Kranker wegen seiner Erkrankung in einer extremen Notlage befindet, aus der es für ihn selbst keinen Ausweg gibt. Der Einzelne sei insbesondere am Lebensende und bei schwerer Krankheit auf die Achtung und den Schutz seiner Autonomie angewiesen.
Neben der bereits erwähnten "extremen Notlage" sind die Voraussetzungen für die Hilfe des Staates gemäss Urteilsbegründung an zwei weitere Kriterien gebunden. Die das Betäubungsmittel beantragende Person muss zu einer freien, ernsthaften Entscheidung fähig sein. Und es darf keine andere "zumutbare Möglichkeit zur Verwirklichung des Sterbewunsches" zur Verfügung stehen, wie etwa das Abschalten von lebenserhaltenden Maschinen.
Nun ist wieder das BfArM gefordert, welches sich mit den mittlerweile zahlreich vorliegenden Anträgen auf eine tödliche Medikamentendosis befassen muss. Das Leipziger Gericht schreibt dazu: "Der Senat verkennt nicht, dass dem BfArM schwierige Bewertungen abverlangt werden und seine Entscheidung einen in hohem Maße sensiblen Bereich betrifft". Da es sich um hochrangige Rechtsgüter handle, bedürfe es einer "besonders sorgfältigen Überprüfung". Im Zweifelsfall seien Sachverständige zu befragen. Denn, wie die Richter nochmals bekräftigten: "Die staatliche Gemeinschaft darf hilflose Menschen nicht einfach sich selbst überlassen." (MD)