Gibt es einen Sterbedruck?
Fühlen sich betagte und leidende Menschen von der Gesellschaft gedrängt, ihr Leben vorzeitig zu beenden? EXIT hat die Thematik an einem Anlass ausgeleuchtet.
Gabriela Stoppe, Professorin für Psychiatrie an der Universität Basel, führte am jährlichen EXIT-Tag ihre Bedenken gegenüber Sterbehilfe ins Feld. Sie wies darauf hin, dass die heutige Gesellschaft durch die wachsende Zahl von alten Menschen herausgefordert werde. «Wer nun würde einem Druck besonders nachgeben?», fragte sie rhetorisch und gab die Antwort gleich selbst: «Vor allem psychisch Kranke oder ältere Menschen.» Hauptsächlich ältere Menschen mit einer psychischen Krankheit würden stigmatisiert, oft fühlten sie sich auch im Rahmen ihrer Krankheit weniger wert und ausgegrenzt. Im Alter seien vor allem Frauen betroffen. Trotz vieler Diskussionen sei ihrer Meinung nach derzeit im Einzelfall noch kein Druck zu verspüren, räumte Gabriela Stoppe ein. «Ich halte es aber für möglich, dass der Druck kommt.»
Eine andere Meinung vertritt Barbara Bilkenroth, Fachärztin für Psychiatrie, Konsiliarärztin von EXIT und Befürworterin von Sterbehilfe. Sie erklärte, dass die alten Sterbewilligen meistens polymorbid seien, also an mehrfachen Gebrechen litten und aus den verschiedensten sozialen Schichten stammten. «Bei diesen Menschen habe ich in der Praxis keinen Sterbedruck von ,aussen‘ festgestellt», sagte sie. Die Psychiaterin führte weiter aus, dass die Rede sei von einer kleinen Gruppe von Menschen, die ihren Weg mit einer Sterbehilfeorganisation gehen wollten: «Sie setzen sich bewusst mit dem Tod auseinander und regeln ihre Dinge. Ein hochpersönlicher und schwieriger Schritt. So erlebe ich es.» Dagegen hätten Angehörige meist Mühe mit diesem Schritt. Nie sei sie jedoch auf ‹Erbschleichereien› gestossen.
Der Ethiker Peter Schaber, Professor und Vorsteher des philosophischen Instituts der Universität Zürich, stellte fest: Hintergrund sei, dass diese sterbewilligen Menschen den Entscheid zu gehen freiwillig fällten. «Aber Druck übt man grundsätzlich aus, indem man droht. Diese Drohung beinhaltet schlimmere Konsequenzen und ist negativer als das, was die Betroffenen dann effektiv machen. Im erwähnten spezifischen Fall scheint mir das gar nicht möglich. Hier im Fokus steht eine Art Bedrängung – quasi mach doch jetzt endlich das oder das! Es handelt sich also nicht um eine Drohung.»
Marion Schafroth, EXIT-Vizepräsidentin und Ärztin, sagte, sie habe an diesem Anlass nichts gehört, wo etwas schief gelaufen sein könnte. Dies habe jedoch auch eine positive Seite: Das bedeute nämlich, es gebe keinen Anlass zur Annahme, dass die Selbstbestimmungsorganisation ihrer Verantwortung nicht gerecht werde. Aus eigener Erfahrung und auch von Seiten der Freitodbegleiterinnen gebe es keine Hinweise, dass ein Druck von Seiten der Familien existiere. Zwar sei es theoretisch möglich, dass ein sterbewilliger Mensch gegenüber EXIT etwas verschweige oder lüge. Doch gerade im existenziellen Sterbeprozess seien die Menschen bereit, sich zu öffnen und ihre Begründungen für die Begleitung darzulegen. Die heiklen Punkte, die es gebe, seien bekannt und würden auch in der Ausbildung der Freitodbegleiterinnen und -begleiter vermittelt. (JW)